Echte Wildnis gibt es in Europa nur noch selten. Der Mensch ist auf dem Vormarsch und die wunderbare Welt der ursprünglichen Natur wird immer kleiner. Heute schmücken dichtbesiedelte Landstriche und große Industriefarmen das ehemals so prächtige und weitläufige Europa. Ich denke oft darüber nach wie die Welt wohl aussehen wird, in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Wird es in Zukunft noch genügend Platz für urgewaltige Landschaften geben?
Der Mensch ist ein Teil der Natur – aber er versucht die Umwelt zu beherrschen und beraubt sich dabei selbst seiner eigenen Heimat. Unsere Heimat ist die Natur, wir alle sind aus ihr entstanden und unsere innere Wahrnehmung ist seit unserer Geburt auf die farbenprächtige Welt da draußen programmiert. Wir brauchen die Natur mehr als Hochhäuser, Brücken, asphaltierte Straßen und schnelle Autos. Es steckt in unserem Wesen, dass wir uns in weiten Landschaften wohl fühlen.
Zu Fuß durch Island fernab der Zivilisation
Inzwischen ist es aber nicht mehr leicht, menschenleere und wilde Gebiete in Europa auszumachen. Ich war auf der Suche nach einem einsamen Ort um meine innere Faszination für die Ursprünglichkeit wiederzuentdecken. Ich wollte weit blicken – über hunderte von Kilometer und bei Dunkelheit keine Lichter mehr am Horizont zählen. Ich wollte raus aus der Zivilisation um eine unberührte Welt zu entdecken. Drei Monate reiste ich mich los und marschierte zu Fuß durch die letzte Wildnis Europas.
Auf Island reagiert die Macht der Natur!
Die isländische Wildnis ist vollgepackt mit Zauber und Magie. Als ich am Startpunkt meiner Wanderung stand, wusste ich nicht was mich auf meiner Reise erwarten würde. Ich wusste aber, dass mein Kompass Richtung Norden zeigte und knapp neunhundert Kilometer Wüsten- und Tundra-Regionen vor mir lagen. Mein Ziel war es die Insel vom äußersten Zipfel im Süd-Westen bis zum nördlichsten Punkt im Osten zu durchqueren. Ich wollte ganz bewusst nicht von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten hetzen, sondern Abseits der Wege laufen. Mit aufrechtem Gang marschierte ich mit 32 kg auf dem Rücken durch die wilden Landschaften. Ich lebte für diesen Moment, und die Einsamkeit der ich begegnete war unbeschreiblich. Es gab keine Worte die diese Stille und Abgelegenheit jemals beschreiben konnten. Es war, als konnte ich mein eigenes Blut in den Adern fließen hören – so still war es. Als ich einmal nach etwa zwei Wochen in meinem Zelt saß und einen Gegenstand aus dem Rucksack holen wollte, wurde ich unsicher. Draußen war es so still, dass ich befürchtete ich könnte mit meinen Geräuschen die Wildnis stören. Erst jetzt hatte ich verstanden was das Wort „Windstille“ wirklich bedeutete.
Weit und breit keine Menschenseele!
Tag für Tag sattelte ich meinen schweren Rucksack und marschierte an gewaltigen Gletschern, Vulkanen, zahllosen Wasserfällen und farbenprächtigen Gebirgszügen vorbei. Das Wetter war erbarmungslos und zeigte mir mit kontinuierlicher Regelmäßigkeit meine Grenzen auf. Es regnete für Tage und Wochen. Einmal musste ich vier ganze Tage einen Regenguss im Zelt aussitzen. Die Akkus meiner elektronischen Geräte wie Handy oder GPS-Empfänger waren total erschöpft, denn die Sonne hatte seit Tagen nicht geschienen und ich konnte die Geräte nicht wie gewohnt über das Solarpanel aufladen. Da saß ich nun, alleine im Zelt in weiter Abgeschiedenheit ohne Musik und Kommunikation. Der Wind donnerte mit lautem Getöse gegen die Zeltwand und drückte mir die „Musik“ der Natur aufs Ohr.
Es war Anfang Juni als die Landschaft gerade aus ihrem Winterschlaf erwachte. Die Sonne stand tief kurz über den Horizont und verzauberte diesen wunderschönen Fleck Erde in eine Märchenwelt. Ich navigierte mich mit Karte, Kompass und GPS Gerät durch die unwirklichen Landschaften. Viele Teile des Landes waren noch mit Schnee bedeckt, was das Wandern sehr anstrengend machte. Immer wieder bin ich tief in den Schnee eingesunken und hatte große Mühe mit meiner schweren Last auf dem Rücken das Gleichgewicht zu halten. Ich quälte mich von Berg zu Berg, von Tal zu Tal und sehnte mich jeden Abend nach meinem warmen Schlafsack.
Weitwandern durch Island bedarf monatelange Planung!
Monatelang hatte ich mich auf diese Reise vorbereitet um jede einzelne Tagesetappe akribisch mit Karten-Material und Google Earth zu planen. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen, doch auch die beste Planung war nur graue Theorie. Ich kannte Island sehr gut, ich hatte das Land zuvor schon fünf Mal bereist, doch noch nie hatte ich solch eine Unternehmung geplant. Meine größte Sorge waren die mächtigen Gletscherflüsse von denen es hunderte auf Island gibt. Würde ich es schaffen, die gewaltigen Wassermaßen zu durchqueren? Als ich gerade vor dem ersten großen Fluss stand erstarrte ich in Ehrfurcht. Niemals würde ich es schaffen diese Fluten zu bewältigen. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, mich minutenlange diesem eiskalten Gletscherwasser auszusetzen um durch den Fluss zu marschieren. Ich wartete meistens bis in die Morgenstunden, an denen der Wasserpegel am tiefsten war. Drei Uhr Nachts war ein guter Zeitpunkt für Flussdurchquerungen, denn zu diesem Zeitpunkt, wenn auf dem Gletscher die Eismassen über die Nacht einfrieren, war das Wasser am niedrigsten. Nur in Shorts durchlief ich das oftmals Oberschenkeltiefe Wasser. Die Flüsse kosteten viel Kraft und Energie, doch je weiter ich lief, umso besser verstand ich es die Wassermengen zu lesen und einzuschätzen.
Island: Mein Eldorado der Freiheit!
Noch nie habe ich in meinem Leben so viel Freiheit gespürt wie in der isländischen Wildnis. In dieser Welt gab es keine Regeln, kein Pflichtbewusstsein oder Termin. Ich war nur ich selbst und konnte tun und lassen was ich wollte. Meine erste Dusche nahm ich nach mehreren Wochen unter einem warmen Wasserfall. Es war ein gigantisches Erlebnis. Mitten in der Natur tropfte das heiße Wasser von meinem Körper ab. Unterwegs habe ich gelernt, dass absolut gar nichts auf dieser Welt selbstverständlich ist. Ich habe gelernt, dass scheinbar banale Dinge wie Wasser das Kostbarste ist, was es auf diesem Planeten gibt.
Meine Wanderung verlief parallel zur amerikanischen und eurasischen Kontinentalspalte. Die Spalte zieht sich mehr oder weniger einmal diagonal durch die ganze Insel. Geologisch gesehen ist dieser Teil der Insel, also die Diagonale, der jüngere Teil des Landes. Genau hier ist es vulkanisch sehr aktiv und in regelmäßigen Abständen bin ich immer wieder auf heiße Quellen mit verstecken warmen Lagunen getroffen. Teilweise war ich mir nicht sicher, ob überhaupt jemals ein Mensch einer dieser versteckten Orte je zuvor besucht hatte.
Schneestürme, Erdbeben und Gewitter: Aufgeben oder weitergehen?
Die Mitte der Insel ist das wildeste Gebiet des Landes. In einem Radius von 250 km findet man an diesem Ort keine Siedlungen und keine Zeichen der Zivilisation. Die Landschaft war hier sehr monoton aber nicht weniger spektakulär. Es sah so aus als wäre der Schöpfung die Farbe ausgegangen. Gletschermoränen formten die Landschaften und der Wind wirbelte das Gestein aus Sand und Schotter auf. Meine Haut fühlte sich an wie Schleifpapier und selbst in meinem Essen waren noch kleinste Sandkörnchen zu spüren. Die dunklen Wolken flogen in einer hohen Geschwindigkeit über mein Zelt. Teilweise hatte ich sehr große Angst denn die Landschaft erdrückte mich immer mehr. Mein einziger Schutz vor den Elementen war mein Zelt. Es waren zwei dünne Nylon Schichten die mich von der Außenwelt abgrenzten. Es schepperte und vibrierte – jede Nacht, es war ein unwirklicher Ort. Ich sehnte mich nach warme Gefilden den das Quecksilber sank häufig, und das im „isländischen“ Hochsommer, auf unter null Grad. Ich war oft so erschöpft, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe meine Wanderung abzubrechen, aber selbst ein Abbruch war in dieser einsamen Region fast nicht möglich. Also blieb mir nichts anderes übrig als weiter zu laufen. Ich marschierte durch Schneestürme, Gewitterfronten und Sandstürme. Sogar die Erde vibrierte einmal heftig als ich gerade an einen der seltenen sonnigen Tage mein Essen am Ufer eines Sees zubereitete. Das Erdbeben dauerte eine Minute, es fühlte sich an als wäre mir ganz schwindelig geworden.
Zu Fuß durch Island, dem Ziel schon ganz nah!
Bis hierhin hatte ich nun schon 750 km zurückgelegt und jetzt lief ich nicht mehr mit aufrechten Gang sondern humpelte mit krummen Buckel durch die Landschaft. Ich war gezeichnet von den Strapazen, aber es war die Freiheit und das Glück das mich ununterbrochen weiter antrieb. Ich kletterte auf Berge, blickte in die Weite und schaute zurück wo ich her kam. Mit Tränen in den Augen konnte ich es nicht begreifen wie wunderschön diese Welt doch ist. Ich war froh, dass ich diese wilde Schönheit kennen lernen durfte bevor sie vom Mensch aufgefressen wird. Zum Ende meiner Wanderung besserte sich das Wetter stetig und die Landschaft wurde grüner und flacher. Jetzt konnte ich mein Ziel schon langsam auf der Karte erkennen – es war nicht mehr weit. Ich montierte mein Solarpanel auf meinem Rucksack, verband es mit meinem Handy und hörte ganz laut Musik. Es war das erste Mal seit über zwei ein halb Monaten, dass ich Musik hörte. Erst jetzt, da die Sonne schien konnte ich verschwenderisch mit meiner Stromversorgung umgehen. Ich sang so laut ich konnte und als ich endlich am nördlichsten Punkt im Osten ankam berührte ich das Meer und blickte tief in die Unendlichkeit.
Zu Fuß durch Island, wenn die Natur den Takt angibt…
Die glazialen Landschaften rückten meine Auffassung vom Leben zurecht und lernten mir, was ich wirklich im Leben benötigte. Wenig – nur mein ein Meter hoher Rucksack und ganz viel Zeit machten mich zu einem glücklichen Mann. Ich öffnete mich den Landschaften und konnte mich ein Stück selbst kennen lernen. Die Macht der isländischen Natur zeigte mir, dass ich klein und unbedeutend war. Jeder Meter den ich auf isländischen Boden zurücklegte ließ mich winziger werden. Die Natur interessierte sich nicht, ob ich da war oder nicht. Meine Bedeutungslosigkeit wurde mir bewusst und ließ mich ganz leicht erscheinen. Den seelischen Ballast, der sich über die Jahre in der menschengemachten Welt ansammelte, konnte ich in der Wildnis lassen.
Folge David auf seinen Reisen!
© Bilder: David Franz – www.david-franz.de
Hallo David!
Das war mitunter einer der bewegensten und spannendsten Artikel die ich seit langem gelesen habe! Hut ab von dieser beeindruckenden Leistung!! 🙌🏻
Alles Liebe, Kerstin
http://www.travelabroad.at
Hallo Kerstin,
vielen Dank und schön das Dir mein Artikel so gut gefallen hat.
Stay wild,
David
Mensch das ist eine krasse Reise, einzigartig und wunderschön kann man denke ich sagen 🙂 Ich liebe die Natur und bin daher oft rund um den Schlern Südtirol unterwegs. Da gefällts mir sehr gut, aber auf menschenleere Landschaften trifft man nicht an. Vielleicht wage ich mich bald auch in das Abenteuer Island. Cooler Beitrag!